9. Das Kommen und Gehen und das Hierbleiben

Der Sommer ist vorbei, die Zeit der Besuche auch. Im September und Oktober kamen viele bekannte Gesichter nach Anafi, die die schon immer kamen. Diejenigen, die sich trotz der Situation auf die Reise machten, weil die Sehnsucht größer war als alles andere.
Es war eine schöne Zeit. Eine Zeit der Ausflüge mit Freunden, der gemeinsamen Wanderungen in den Bergen, der Spaziergänge zum Strand. Es war die Zeit des gemeinsamen Frühstückens, des Zusammenseins in den Tavernen. Wir saßen im Steki oder im Sokaki, wo es immer samstags gegrilltes Hühnchen gab oder in der Anemos-Taverne zum Fischessen. Fisch, den kurz vorher noch Antonis aus dem Netz holte, jenem Netz, das sein Vater, der alte Fischer Manolis jeden Morgen am Hafen flickt. Manchmal tranken wir auch bei Martha im Hafen abends ein Bier. Und aßen ein Sandwich dazu. Sie hatte eine schöne lustige bunte Beleuchtung an ihrem Bananenblätterdach angebracht. Wir kehrten auch bei Nektaria und Popi in der Hafentaverne ein, mit der ganzen Truppe, nach dem Morgenschwimmen auf einen Orangensaft, oder einen Salat. Und manchmal spendierten sie uns dazu ihren frischgebackenen Kuchen. Wir besuchten die Nonne im Kloster, dort, wo wir in dem kleinen Klosterladen Kloster-Wein kauften, dort wo man keine Maske trägt, weil die Nonne Gottvertrauen hat. Oder wir trafen uns einfach nur auf der Terrasse und spielten zusammen Musik, alles war erlaubt. 

 

Freunde ....

Wir brachten unsere Freunde zur Fähre, wir holten andere Freunde von der Fähre ab, es war ein Kommen und Gehen. Jedes mal wenn wir am Hafen standen und der Prevelis-Fähre winkten, sagten wir uns, wir müssen nicht abfahren, wir bleiben hier. Und erinnerten uns an die vielen Male, als wir die Insel verlassen mussten, um irgendwann wiederzukommen, wenn alles gut geht. Es ist wie ein Sog, immer will man hierher zurück. Das schon seit vielen Jahren. 2004 war ich das erste mal hier. Und es verging kein Jahr in dem ich nicht zurückkehrte, später vergingen kaum drei Monate.
Der Abschied von Anafi war jedes mal, ich erinnere mich genau und ich kann es immer noch spüren, ein seelischer Schmerz. Kaum war ich in Berlin, suchte ich nach Möglichkeiten, so schnell wie möglich zurückzufahren. Urlaub zu beantragen, die Tage mit Feiertagen koppeln, so konnte man manchmal viel länger bleiben, Flüge zu buchen und ein Hotelzimmer in Athen.

Wenn ich nicht hier auf Anafi war

Wenn ich nicht hier auf der Insel war, schaute ich mir mit Freunden stundenlang Fotos an, griechischen Wein trinkend, den uns Manolis auf Anafi schenkte.
Wenn ich nicht hier war, schrieb ich vom Dasein in der schönen Kargheit, von der Stille, die man hören kann, vom Kalamosberg, der nie seine Magie verliert, von der griechischen Gastfreundschaft und der befreienden Atmosphäre.
Wenn ich nicht hier war, malte ich das Meer oder malte das Nichts, wovon es hier so viel gibt. So richtig schöne Nichts. Ich malte auch griechische Musikinstrumente, ohne dass ich ahnte, dass ich sie irgendwann spielen würde.
Wenn ich nicht hier war, gingen wir in Berlin in griechische Tavernen, wo sie Rembetiko spielten, oft erst um Mitternacht beginnend und manchmal musste man am nächsten Morgen zur Arbeit. Aber das war nicht wichtig. Man tauchte für einen Moment in die griechische Sehnsucht ein, inmitten der rauchigen Musik.
Wenn ich nicht hier war, zeichnete ich die Gassen, Häuser und Kirchen, ohne dass ich ahnte, dass es mal mein Zuhause wird.
Wenn ich nicht hier war, blieb in mir eine Vision, blieb in mir ein Bild, ein Bild von mir, am Hafen stehend, der Fähre nach Piräus hinterherwinkend. Ich hatte in dieser Vision kein Rückticket. Dazu sind ja Visionen da. Ich schloss die Augen für einen Moment und sah dieses Bild, fast täglich. Aber irgendwann glaubte ich daran, dass irgendwann dieses Bild wahr wird. Im Jahre 2014 setzte ich diesem inneren Bild noch einen Zeitpunkt hinzu. 2017. Vor versammelter Mannschaft, in einem Seminar. Dieses Bild wurde 2017 Wirklichkeit.

Vom schönen Leben

Neue Bilder sind in mir, sie haben am Ende alle den gleichen Nenner, ein schönes Leben und Gesundheit. Was ein schönes Leben ausmacht, da könnte man Seiten schreiben, es ist all das, was einem selbst gut tut. Für jeden kann es etwas anderes bedeuten.
Natürlich schließt ein schönes Leben immer mit ein, dass es auch der Familie gut geht, den Freunden, dem Umfeld. Alles andere würde mir ja schließlich nicht gut tun.

Ich hatte schon immer ein schönes Leben, eine schöne Kindheit, eine wilde Jugend in der DDR, ich war Stones-Fan, hörte Musik auf Radio Luxemburg, der Empfang war schlecht, aber das war egal. Wir gingen zu Friedensmessen, die in der Kirche oder mit christlichem Hintergrund außerhalb von Berlin stattfinden durften, da lebten wir unsere Freiheit aus. Wir trugen alle diese Peace-Kette und wollten eigentlich nichts anderes als das. Wir warben während eines Festivals auf dem Alexanderplatz für Frieden und Freiheit, wir trugen Shell-Parkas, Flicken-Jeans und Tramper-Schuhe. Und hatten lange Haare. Wir wurden in einen Fussgängertunnel gesperrt und Stunden festgehalten und ausgefragt, meistens zu Kontakten in den Westen. Ich war erst vierzehn oder fünfzehn und verstand nicht was falsch war an Frieden und Freiheit. Aber offenbar zeigte das Wort Freiheit die nicht vorhandene Freiheit. Und das war staatsfeindlich. In den DDR-Nachrichten redeten sie am nächsten Tag von randalierenden Jugendlichen, in der West-Tagesschau von willkürlichen Festnahmen bei einem friedlichen Treffen. Ich war Mitte zwanzig, als wir uns jährlich in Prag mit Freunden aus dem Westen trafen, oder denen, die dorthin gegangen sind. Wir waren eine große Truppe. Das sah man nicht gerne. Wir wurden von der Polizei mit Knüppeln verjagt, festgehalten, kontrolliert und zum Bahnhof gebracht. Das war alles nicht schön, hat aber irgendwann zu einem schöneren Leben geführt. Nicht alles so hinnehmen, was verkündet wird, selber Erfahrungen machen, das tun, was mein Inneres mir zeigt. Meinen Weg gehen, Ungerechtigkeiten erkennen, eigene Schlüsse ziehen. Wir haben es gelernt. Wir Kinder der DDR.
Ich wurde frühzeitig Mutter, fortan lag der Fokus natürlich auf der Familie. Ein schönes Leben sollten jetzt auch die Kinder haben, ich tat mein Bestes. Auch wenn es nicht immer funktionierte oder vielleicht am Ende ja doch. Ich hörte nie auf, rebellisch zu sein, meinem Gefühl zu folgen. Dinge zu tun, die Andere nicht gerne sahen. Das gehörte für mich zu einem schönen Leben. Mich selber nie zu belügen. Ich bin immer gerne zur Arbeit gegangen, es war auch wie eine Familie. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass mir das Arbeitsleben nicht reichte, die „Wende“ brachte viele Veränderungen mit sich. Das Leben wurde beschleunigt. Überall hörte man das Wort Stress.
Alles wurde möglich. Die Reisen waren meine Auszeiten und der Inbegriff der Freiheit. Ich wurde Malerin. Am Tag im Büro und am Abend im Atelier. Ich entdeckte meine innere Welt wieder neu. Auch dies eine schöne Form von Freiheit, auch wenn es manchmal schmerzhaft war. Ich lebte in mehreren Welten. Fünfundzwanzig Jahre lang. Am Ende siegte die Welt der inneren Freiheit, der Sehnsucht, jeden Morgen auf das Licht des Meeres zu schauen. Nun bin ich hier. Seit dreieinhalb Jahren mit Stefan. Und habe nicht eine Minute bereut.
Jeder sollte eine Vision haben, die ganz eigene. Gerade wenn man denkt, das Leben ist nicht schön. Ich habe nie einen Zweifel zugelassen. War mir auch gar nicht in den Sinn gekommen. Komisch ja, wo man doch so oft an vielen Dingen in der Realität zweifelt. 

Ich: 1965/ 1978/ 1982/ 2017

Anfang Dezember 2020

Es ist wieder ruhig auf Anafi. Es kam der November und mit ihm wieder Corona. Nein, nicht nach Anafi. Die Saison war vorüber. Es ist leer auf den Inseln. Lockdown in Griechenland.
Alle Tavernen sind zu und der Imbiss auch. Alles ist abends dunkel, nur im Armenaki sieht man allabendlich Licht in der Küche und im Innenraum der Taverne. Dort trifft man sich vielleicht. Ich weiß es nicht.
Keiner darf seit ein paar Wochen mehr auf die Inseln, nur Einheimische mit einem Nachweis. Auch die Schulen sind geschlossen. Überall, auch auf den Inseln wo es keinen einzigen Fall bisher gab.
Agapia sagt, sie sah neue Leute auf der Insel, ich sage, sie dürfen doch nicht kommen, sie sagt, ach, die verstecken sich auf der Fähre in den Autos.
Unsere Flüge nach Deutschland hin und zurück wurden ersatzlos gestrichen, was uns blieb ist ein Gutschein. Immerhin.
Die Neujahrsferien in Deutschland fallen aus. Keine Spaziergänge mit meiner Mama über den Berg, kein Käffchen mit Stefans Mama bei Schummerlicht, keine Kekse früh im Bett mit meinem Enkel Emilio, kein Kartenspiel mit Frido, keine Gespräche mit meiner Tochter Diana in ihrer kleinen, gemütlichen Küche, keine Spaziergänge mit meiner Tochter Susan im Humboldthain. Keinen Ausflug ins Vogtland zu Sabine und keinen Besuch dort bei meinem Sohn Tim und den Mädels und seinen Bienen. Kein Familientreffen, wo Stefan immer das traditionelle Weihnachtsessen kocht und Andy die scharfe Chilipaste auf den Tisch stellt. Keinen selbstgebackenen Streuselkuchen bei meinem Vater. Keinen Tee mit meiner Tante Helga. Keine Geburtstagsrunde mit Ramona in Zerpenschleuse. Kein Kristallweizen mit meiner Freundin Karla am Zionskirchplatz. Kein Spaziergang an der Spree und auch keine Currywurst mit extra scharfer Soße in der Curry Baude.
Diese völlig normalen einfachen Dinge sind in diesen Zeiten für uns nicht realisierbar, wer hätte so etwas noch vor einem Jahr für möglich gehalten....
Aber so ist es nun mal, die Griechen sagen, man muss Geduld haben, es wird schon alles.
Wir sind irgendwie in Warteposition. Was ja nicht schlimm ist hier.
Uns geht es wirklich gut, und es ist schön, dass wir hier sind. Ein Segen. Und mehr als das. Wir lieben den Winter hier, es gibt Tage, da kann man an den Strand gehen und schwimmen, und am nächsten Tag läuft man mit dem dicken Anorak gegen den eiskalten Nordwind an, der über Nacht aufkam. Oder es gibt wieder mal Südwind, der kein Schiff hier anlegen lässt, wie letztens die Prevelis-Fähre am Donnerstag, sie musste die Passagiere am Hafen zurücklassen. 

Es ist früh um sieben, der Himmel orange, die Wolken auch, wieder Südwind, warm aber heftig, in der Luft der gelbe Saharastaub, alles wie verhüllt im sandigen Dunst. Kater Paule hat Hunger, miau, oder niau, wie die Griechen es sagen.
Wir freuen uns auf den Tag, auf die Runde früh ums Dorf, auf das Frühstück auf der Terrasse, mit frischen Hühnereiern, die uns Popi gestern brachte, weil ich jeden Tag die Hühner mit unseren Küchenabfällen füttere. Sie kommen schon immer angerannt, wenn sie mich sehen. Und Paule muss natürlich sofort mit über den Zaun hüpfen, könnte ja auch was für ihn dabei sein. Dann fangen die Hühner mächtig an zu meckern aber Paule stört das nicht. Er ist oft bei den Hühnern, da hat er Gesellschaft. Stefan hat auch etwas Arbeit, er muss eine Ablufthaube installieren in Popis Elternhaus, was jetzt an eine Lehrerin mit ihrem Mann und Kind vermietet ist. Und Agapia hat geschrieben, es gibt Probleme mit dem Kühlschrank und Mattheus hat einen neuen Spülkasten für das Zimmer drei, und dann gibt es noch zwei Lampen, die angebracht werden sollen.
Und: Heute kommt die Fähre mit eineinhalb Tagen Verspätung, sie bringt Ware, frisches Obst und Gemüse und vieles andere mehr. Es ist Sonntag und da ist der Laden im Hafen eigentlich geschlossen, aber Ioanna, die Besitzerin wird trotzdem öffnen. Die Fähren oder vielmehr der Wind, sie bringen alles durcheinander, sagt sie. So ist das nun mal. Wir leben auf einer Insel. Wir leben mit dem Wind. Und es wurde Regen angesagt. Julien und Stefan aber gingen dennoch los und kamen pitschnass inmitten des Gewitters wieder zurück. Aber schöne Sachen haben sie eingekauft, sagten sie. Ioanna wird sie später mit hoch bringen. Julien überwintert hier auf Anafi. Er ist Franzose und Wissenschaftler und suchte nach einer fünftausend Kilometer langen Radtour durch Europa eine ruhige Insel und fand Anafi. Und blieb.

Weihnachten und Neujahr

Am 24. Dezember schien die Sonne und da gingen wir zum Katsouni Strand. Traditionelles Weihnachtsschwimmen. Das machen wir jedes Jahr, wenn es möglich ist und es war fast immer möglich. Die ersten Blümchen sieht man inmitten des grünen frischen Klees. Lila Anemonen und gelbe Butterblumen.
Am Abend, dem heiligen, essen wir zusammen mit Julien eine Krusta und dann gehen wir mit Rakomelo und drei Gläsern hoch zum Kastro. Rakomelo ist ein heißes Getränk aus Raki mit Honig, Nelken und Zimt. Frohe Weihnachten.
Man kann das ganze Dorf von hier oben sehen, es ist alles ruhig und dunkel, nur hier und da blinkt eine Lichterkette. Es fliegen die Fledermäuse und die kuschlige Katze von Jannis begleitet uns. Jannis ist der Maler des Dorfes, er wohnt hier oben, zusammen mit seinen Tauben. Er streicht seit Tagen das Haus von Popis Mutter. Und er schenkte uns eine Flasche Wein, selbstgemacht. Einfach so.
Wir schauen uns Videos vom letzten Jahr an, da zogen die Musiker der Insel durch das Dorf und klopften an den Türen und sangen das griechische Weihnachtslied. Mit Bouzouki, Lyra, Gitarre und Gesang. Sie zogen am Schluss zum Kastro und danach in die Steki-Taverne und dort sangen sie und tanzten auf dem Tisch bis früh um vier. Dieses Jahr ist es anders, Julien sagt, es ist doch aber auch gemütlich. Ja das ist es. Heute ist der 25. Dezember, der Nachbar sammelt Holz für sein Lagerfeuer. Heute Mittag wird gegrillt. Das Wetter ist egal sagt er, Hauptsache eine gute Parea, also nette Leute... Das Wetter war schön, wir hoch über dem Meer, umgeben von gelben Blüten, und der unendlichen Weite. Wir spielten mit dem Feuerchen und tranken und aßen und schauten in die Ferne.

 

Am Silvesterabend grillten wir bei Agapia. Tzortzis hatte in diesem Jahr Wein gemacht. Mitternacht gingen wir wie immer hoch zum Kastro mit Rakomelo. In diesem Jahr wurde hier ein klitzekleines Feuerwerk gezündet. Es sollte vielleicht einen Lichtblick verkünden oder einfach nur so. Am Neujahrstag war herrliches Wetter. Wir machten Picknick am Strand und ein Feuerchen. In der Nachmittagssonne schwommen wir, das Wasser hat 18 Grad, kein Mensch außer uns.
Ein gesundes friedliches neues Jahr wünschen wir euch allen. 

Erinnerungen an Manolis

Immer wenn wir am Haus von Manolis vorbeikommen, pflücken wir Rosmarin von seinem riesigen Busch. Er hatte uns gesagt, wir können soviel nehmen wie wir wollen und das gilt ja immer noch, jetzt wo er nicht mehr da ist, aber vielleicht sieht er uns ja von da oben und freut sich, dass wir seinen Rosmarin pflücken. Manolis war unserer Lieblingsopa und wir gingen regelmäßig bei ihm vorbei, holten für ihn Wasser und manchmal auch ein Brot vom Bäcker. Und dann gab es einen Kaffee und alte Geschichten. Geschichten aus der Zeit, wo für ihn die Welt noch in Ordnung war. Jeder half jedem und jetzt? Jetzt macht jeder nur noch Seins. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Die jungen Leute spielen mit ihren Handys oder sitzen vorm Fernseher. Früher haben sie von ihren Eltern alles gelernt über das Leben auf dem Land, wie man ein Haus baut oder einen Haushalt führt, wie man ein inseltypisches Instrument spielt, wie man die Beete bestellt, und was für eine Rolle der Mond und der Wind dabei spielt. Das interessiert jetzt keinen mehr. So sagte er. Und sagt dann nur noch „Ti na kanoume“, was aber kann man tun, so ist es nun mal. Ach lassen wir das!
Sein Sohn Giannis wohnte früher mit seiner Frau und den drei Kindern gleich nebenan. Vor ein paar Jahren aber ist die Familie nach Santorin gezogen, dort gab es Arbeit für den Sohn. Manolis war fortan hier auf Anafi allein und seitdem ging es bergab mit ihm. Nur seine Schwester kam ab und zu, sie ist fast blind, aber fand immer mal den Weg zu ihm. Wenn sie lange nicht kam, sollten wir mal nach ihr schauen. Und Frau Anna kam auch hin und wieder vorbei, sie weiß ja immer das Neuste. Wir liebten es, bei ihm zu sitzen, draußen auf seiner selbst gemauerten Steinbank, vor seinem kleinen, verwinkelten selbstgebauten Haus. Manolis war der Baumeister von Anafi, er sagte uns, er habe halb Anafi aufgebaut.

Manolis ist im Juni 2019 gestorben. Ein sehr großer Verlust für Anafi. Für uns. Er spielte Sambuna. Ein altes inseltypisches Instrument, es ähnelt dem Dudelsack und wird aus Ziegenleder gefertigt. Es hat eine lange Tradition hier auf den Kykladen und Manolis war einer der letzten Spieler hier.
Seinen Enkel Manolaki hatte er angelernt, er konnte mit sechs Jahren schon gut spielen und ging immer mit seinem Opa mit, wenn dieser irgendwo auftrat. Noch vor ein paar Jahren sind wir zusammen nach Santorin gefahren zum Sambuna-Festival. Dort war er immer ein Star, zusammen mit seinem Enkel und Markos vom Sokaki, der sie auf der Trommel begleitete.

Manolis traf ich zum ersten Mal vor zehn oder elf Jahren auf seinem Esel, damals wusste ich bereits, dass er der Sambunaspieler auf Anafi ist. Als ich ihn da fragte, wann wir ihn mal wieder hören können, sagte er uns, dass er seit einem Jahr gar nicht mehr spielt, weil sein Bruder verstorben ist. Ich ahnte damals noch nicht, dass wir später unvergessliche schöne Momente mit ihm verbringen dürfen. Er hatte eine Farm im Drapano auf der Nordseite der Insel. Ich erinnere mich gut an die vielen Begegnungen dort mit ihm. Manchmal trafen wir uns früh um sieben im Dorf und gingen dann mit ihm über die Berge, Manolis auf seinem Esel, wir zu Fuß. Eine sehr schöne Wanderung im Morgenlicht von zweieinhalb Stunden.
Manolis hatte hier sein Feld, sein Haus und seine Kirche, alles hat er selbst gebaut und liebevoll mit praktischen Dingen ausgestattet.
Dort angekommen, suchte er immer seinen zweiten Esel und gab ihm Stroh und Wasser. Dann gingen wir auf das Feld und ernteten Gurken und kleine Melonen und er schimpfte auf die Krähen die ihm die ganzen Tomaten aufgefressen hätten und auf die Käfer und Schnecken, die alles anfressen. Aber etwas haben sie ihm gelassen, ein paar Gurken, Melonen und Bohnen.
Manolis putzt grüne Bohnen und ich schäle die Gurken. Wir haben auch Tomaten, Käse und Gebäck mitgebracht. Ein Festessen, dazu Wein und Tsikoudia, ein Tresterschnaps von den steinigen Weinfeldern hier. Hat man einmal eine anafiotische Gurke gegessen, eine Kazouni, fragt man sich, wie diese trockene Erde diese hervorgebracht hat, für mich grenzt es an ein Wunder. Sie schmeckt wie ein saftiger Apfel, oder wie eine Honigmelone oder etwas dazwischen.

Der Nachbar Tassos kommt herüber mit seinem riesengroßen Strohhut und wir erzählen viel. Ich kann ihn schlecht schätzen, aber er wird zwischen siebzig und achtzig Jahre alt sein. Er ist eines von neun Kindern, die auch wie Manolis hier im Drapano-Gebiet aufgewachsen sind. Ein paar Häuser und Stallungen unweit von der Farm, weit ab von der Chora, mitten in den Bergen. Heute sieht man nur noch die Ruinen.

Wir hören alte Geschichten.
Die Menschen, die hier früher lebten, haben alles selbst gemacht. Sie legten Terrassen an und bauten alles an, was sie zum Leben brauchten. Meistens bestellten die Frauen die Felder. Es war harte körperliche Arbeit. Nur Kaffee und Zucker haben sie in der Chora gekauft. Diese war auf der anderen Inselseite, Zwei bis drei Stunden zu Fuß über Berg und Tal.
Der Vater von Tassos war Fischer und konnte so die Familie gut ernähren, da er sogar ein Boot hatte. Eines Tages, so erzählte man uns, ist beim Dynamitfischen sein Boot zerstört worden, die Lebensgrundlage der Familie. Er ließ die Frau allein, sie hatte damals bereits fünf Kinder und ging nach Amerika, um Geld zu verdienen für ein neues Boot. Die vier Kinder wuchsen ohne Schule auf, fast wild. Sie lebten zusammen mit den Tieren und lernten nie andere Menschen als vom Drapanos kennen. Und so war Nikolas, ein Bruder von Tassos, als wir ihn einmal kennenlernten, sehr scheu und misstrauisch gegenüber Menschen, die er nicht kennt. Tassos ist dagegen zugänglicher. Und neugierig. Und erzählt weiter alte Geschichten und dass er immer noch am liebsten im Stall bei seinem Esel schläft, im Stroh.
Der Vater kam nach zirka zehn Jahren wieder zurück und sie bekamen nochmal vier Kinder. Diese mussten zur Schule gehen. Da gab es dann die Schulpflicht. Einen von ihnen haben wir auch mal kennengelernt und er erzählte uns diese Amerika-Geschichte.

Tassos fragt mich, wie die Bilder in diesen Fotoapparat kommen. Und er will sich mit mir fotografieren lassen. Aber nur, wenn wir ihm ein Foto bringen. Und er fragt wieder, wie wir dieses Foto aus dem Apparat dann herausbekommen.

Es ist später Nachmittag, wir sitzen unter dem großen Baum, auf der neuen Bank, die hat Manolis heute erst fertig gebaut. Falls Gäste kommen und man unter dem Baum Erfrischung sucht. Inzwischen sind seine Esel auf das Feld ausgebüchst und fressen die Maispflänzchen ab. Manolis ist wütend aber am Ende sagt er, ti na kanoume, was soll man machen.... sie haben mir ja drei Stengel gelassen. Er spielt auf seiner Flöte und manchmal singt er auch dazu. Kathe vradi pino... jeden Abend trinke ich … Wir müssen uns auf den Rückweg machen...drei Stunden zu Fuß über die Berge.

Wenn er mal wieder im Dorf wohnte, besuchten wir ihn, fragten ob wir etwas für ihn tun können, Stefan holte ihm wieder Wasser und er kochte uns wieder einen Kaffee.
Oder manchmal am Abend holte er lächelnd seinen Drapanos-Wein, er wusste, wie sehr ich ihn liebte. Und dann holte er bedächtig den Aschenbecher, die Zigaretten aus der Hosentasche, setzte sich hin und suchte das Feuer, ging noch einmal ins Haus und setzte sich wieder hin und schaute in die Ferne. Zündete sich die Zigarette an und sagte, er hätte gestern zu viel geraucht und auch getrunken, heute gehe es ihm schlecht, er muss wirklich aufpassen, aber er kann nicht anders. Das hier, sagte er, ist schon die zweite Schachtel Zigaretten heute, das gehe eigentlich nicht, das ist zu viel, ich bezahle meinen eigenen Tod und das sehr teuer, und lacht. Ich bat ihn, weniger zu rauchen, nur noch ein paar Zigaretten. Ich bat ihn immer wieder, er soll es doch versuchen, für seine Familie. Für uns. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn wir nach Anafi fahren und Manolis ist nicht mehr da.
Manolis starb an Lungenkrebs. Gestern haben wir an seinem Grab eine Kerze angezündet.